Frieden ist nicht Zustand, sondern Prozess
Von Andrea Seeger
Als Grundlage sieht schon Martin Luther King, dass Menschen die gegenseitige Abhängigkeit alles Seins begreifen müssen.
Frieden – das Wort klingt gut. Die meisten Menschen wollen in Frieden leben. Ist Frieden die Abwesenheit von Krieg? Das auch – aber noch viel mehr. Ein Erklärungsversuch:
Was ist das eigentlich genau: Frieden? Zunächst mal Harmonie. Diesen Zustand erreicht, wer keine Konflikte aushalten muss. Das gilt für den inneren Frieden, den man mit sich selbst macht oder der in einem Land herrschen kann. Und das gilt auch für den äußeren Frieden, in dem Völker und Staaten miteinander leben – oder eben nicht.
In der modernen Friedens- und Konfliktforschung ist der Begriff unterteilt in negativen Frieden, das bedeutet lediglich die Abwesenheit von Gewalt. Und dann gibt es den positiven Frieden. Der besteht außerdem in der Abwesenheit von struktureller Gewalt. Das ist alles, was Individuen daran hindert, sich voll zu entfalten: Diskriminierung genauso wie die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen. Diese Definition geht zurück auf den norwegischen Mathematiker und Politologen Johan Galtung, einem Mitbegründer der Friedens- und Konfliktforschung.
Zwischen „wahrem Frieden“ und „schlechtem Frieden“
Frieden ist nicht von Natur aus gegeben, sondern er ist ein geschaffener Zustand, der durch ein Minimum an Ordnung und Vereinbarungen gesichert werden muss – in enger Verknüpfung mit dem Begriff des Rechts.
Frühe Philosophen wie Thomas von Aquin (1224/25 bis 1274) betrachten den Frieden als politisches Gut schlechthin, als Zweck des Staates. Sie unterscheiden zwischen „wahrem Frieden“ und „schlechtem Frieden“. Schlechter Frieden ist Ausdruck einer schlechten und gewaltsam herbeigeführten Ordnung. Nur wahrer Frieden sei erstrebenswert.
Thomas Hobbes (1588 bis 1679) bewertet die Einhaltung des Friedens als erstes und wichtigstes Naturgesetz. Ohne das kann es für ihn keinen Staat geben. Bei allen Theoretikern herrscht Konsens, dass der Staat zur Sicherung eines Rechts- und Friedenszustandes dient. Frieden durch Hegemonie, die Vormachtstellung einer Supermacht; statt des rechtlosen Naturzustandes alles Recht bei dieser Macht; Frieden bedeutet Sicherheit vor Krieg und Gewalt. Das entspricht dem negativen Frieden.
Mit der Schrift von Immanuel Kant (1724 bis 1804) „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795 trat eine Wende in der völkerrechtlichen Bewertung des Friedens ein. Der Krieg wurde moralisch geächtet und Rechtsgrundsätze für zwischenstaatliche Sicherheitsmaßnahmen und allgemeine Bedingungen für eine umfassende Rechts- und Friedensordnung begründet.
Waffenstillstand führt nur zu einem unechten Frieden
Auch für Kant war Frieden kein natürlicher Zustand. Er müsse erst gestiftet werden. Der Mensch sei von Natur aus vorbestimmt, in Konflikte zu geraten und Kriege zu führen. Doch aus jedem Konflikt entstehe eine größere Eintracht, die nach unbestimmter Zeit zwangsläufig im „ewigen Frieden“ ihren Endzustand erreiche.
In der Schrift beschreibt Kant auch den Unterschied zwischen echtem und unechtem Frieden. Demnach führt ein Waffenstillstand nur zu einem unechten Frieden. Darüber hinaus müssten die Gegner einen echten Friedensbund aushandeln. An den müssen sie sich halten, in ihm die Konflikte lösen. Das entspricht der Definition des positiven Friedens.
Im 20. Jahrhundert wurde Politik insgesamt als Bemühung um Frieden definiert: „Der Frieden ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen.“ Mit dem Völkerbund, gegründet 1920, und der UNO, gegründet 1945, wurden Organisationen der internationalen Sicherheit geschaffen. Die Aufgabe ihrer Mitglieder ist es, den Frieden zu sichern, Konflikte zu begrenzen und einzudämmen sowie friedensstrategische Konzepte mit zu entwickeln.
Die neuere Friedensforschung begreift Frieden nicht mehr nur als Zustand, sondern als Prozess. Konsens ist, dass Gesellschaften angesichts globaler Probleme wie der Klimaerwärmung, des Verlusts der biologischen Vielfalt, des Zugangs zu Trinkwasser oder der Bekämpfung der Armut gemeinsam nach Lösungen suchen müssen. Martin Luther King formulierte es bereits im Jahr 1965 so: „Wir werden keinen Frieden auf Erden haben, ehe wir nicht die gegenseitige Abhängigkeit alles Seins begreifen.“
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